Letzte Woche bin ich in ein Kaninchenloch gefallen. Alles begann mit einem simplen Blick auf GitHub-Profile von Entwicklern aus meinem Netzwerk. Was ich da sah, passte so gar nicht zu dem, was uns die Tech-Industrie seit Monaten erzählt.
Die Commit-Zahlen? Rückläufig. Alle. Ausnahmslos.
Mein erster Gedanke: “Ok, dein Sample ist halt beschissen.” Klar, viele dieser Leute sind mittlerweile in Festanstellungen und pushen nicht mehr alles auf ihre privaten Repos. Die wilden GitHub-Jahre als Student sind vorbei, jetzt wird im firmeninternen GitLab committed.
Aber dann stolperte ich über einen Artikel von Mike Judge (https://mikelovesrobots.substack.com/p/wheres-the-shovelware-why-ai-coding), der mir endgültig den Schlaf raubte. Der Mann hat sich die Mühe gemacht und sich wirklich ALLE relevanten Metriken angeschaut: GitHub weltweit, Steam Releases, App Store Launches, sogar Domain-Registrierungen.
Seine Erkenntnis? Das gleiche Bild, nur im globalen Maßstab. Flache Linien. Stagnation. Teilweise sogar Rückgänge.
Und jetzt kommt’s: Ich hätte mit mindestens 30% Wachstum gerechnet. Bei all dem Hype um KI-gestützte Entwicklung, bei all den “10x Developer” Claims, bei all den Tools, die uns angeblich zu Coding-Göttern machen sollen.
Wo zum Teufel ist der Boom?
Die unbequeme Wahrheit über KI-Produktivität
Mikes Artikel hat mich wachgerüttelt, weil er etwas anspricht, das viele von uns insgeheim schon gemerkt haben: Die vollmundigen Versprechen der KI-Coding-Tools stimmen nicht mit der Realität überein.
Die Claims sind überall:
- Cursor: “Built to make you extraordinarily productive”
- Claude Code: “Build Better Software Faster”
- GitHub Copilot: “Delegate like a boss”
- Google behauptet, ihre LLMs machen Entwickler 25% schneller
- 14% der Entwickler behaupten sogar, sie seien durch KI 10x produktiver geworden
Aber wo sind die Ergebnisse?
Mike hat Wochen damit verbracht, Daten zu sammeln und Zehntausende von Terabytes zu verarbeiten. Seine Analyse von GitHub-Commits, Steam-Releases, App-Store-Veröffentlichungen und Domain-Registrierungen zeigt überall das gleiche Bild: flache Kurven, keine Spikes, keine Hockey-Stick-Wachstumskurven.
Wenn man sich diese Charts ansieht, kann man nicht erkennen, wann KI-Coding 2022/2023 mainstream wurde. Es gibt einfach keinen sichtbaren Effekt.
Die METR-Studie: Der Wendepunkt
Besonders interessant finde ich Mikes persönliche Geschichte. Er war Early Adopter von KI-Coding-Tools, bis er die METR-Studie las. Diese zeigte etwas Erschreckendes: Entwickler dachten, sie wären 20% schneller mit KI, waren aber tatsächlich 19% langsamer.
Mike hatte gerade noch jemandem erzählt, er fühle sich etwa 25% schneller mit KI. Er lag nur 5% daneben, nur eben in die falsche Richtung.
Das veranlasste ihn, seine eigene Produktivität wissenschaftlich zu messen. Sechs Wochen lang nahm er sich Tasks vor, schätzte die Zeit ohne KI, warf eine Münze (Kopf = KI, Zahl = manuell) und maß die tatsächliche Zeit. Das Ergebnis? Die Daten sind statistisch nicht signifikant. Er bräuchte weitere vier Monate Daten, nur um zu beweisen, ob KI ihn überhaupt schneller oder langsamer macht.
Der Median seiner Messungen? KI macht ihn 21% langsamer. Exakt wie in der METR-Studie.
Software-Entwicklung ist nicht Code-Schreiben
Und hier kommen wir zum Kern des Problems. Viele denken, Web- und Software-Entwicklung wäre primär das Schreiben von Code. Spoiler: Ist es nicht.
Wenn ich so überlege, wie ich mich manchmal mit Claude fetzen muss, um überhaupt zu meinen Ergebnissen zu kommen… 😅 Das kostet mehr Zeit als es spart. Die KI spuckt Code aus, klar. Aber ist es der richtige Code? Macht er wirklich das, was ich will? Passt er in meine Architektur? Meist muss ich drei Anläufe nehmen, umformulieren, präzisieren, korrigieren.
Und weißt du was? Ohne Plan wird das alles nichts. Du brauchst eine glasklare Vorstellung davon, was du bauen willst, wie es architektonisch aussehen soll und wie es ins Gesamtbild passt. Sonst produzierst du nur Müll, den du später wieder auseinandernehmen musst.
Code ist nur ein Teil der Arbeit. Ein wichtiger Teil, klar, aber eben nur einer von vielen.
Was wirklich Zeit frisst:
Code schreiben- Das Problem verstehen (und zwar wirklich verstehen)
- Die richtige Architektur finden
- Einen Plan entwickeln, bevor du überhaupt anfängst
- Code reviewen und verstehen, was die KI da eigentlich fabriziert hat
- Debuggen (oh boy, das Debuggen von KI-generiertem Code…)
- In bestehende Systeme integrieren
- Testen, testen, testen
- Dokumentieren
- Mit dem Kunden kommunizieren
Meine Thesen: Warum der Boom ausbleibt
1. Code zu erzeugen, ist beliebig geworden
Mit KI kann jeder in Minuten riesige Mengen Code generieren. Der “Wert” sinkt, weil der Aufwand dahinter kaum sichtbar ist. Aber wie Mike richtig feststellt: Code schreiben ist nur ein Teil der Arbeit.
Die Zeit, die du beim Tippen sparst, verlierst du beim Reviewen, Verstehen und Korrigieren wieder. Und dann noch etwas drauf. Gestern hatte ich ein Feature, das ich in 10 Minuten selbst geschrieben hätte. Mit Claude? 35 Minuten, weil ich erstmal erklären musste, was ich will, dann den Code verstehen musste, dann feststellte, dass er nicht in meine Architektur passt, dann neu prompten musste…
Du siehst, worauf ich hinauswill.
2. Ohne Plan keine Produktivität
Um einen Coding-Agent effektiv zu nutzen, brauchst du einen Plan. Einen wirklich guten Plan. Du musst genau wissen, was du willst, wie es strukturiert sein soll und wie es in dein bestehendes System passt.
Ironischerweise ist genau DAS die eigentliche Entwicklungsarbeit. Das Tippen war nie das Problem. Die KI hilft dir nicht beim Denken, sie hilft dir nur beim Ausführen. Und wenn deine Anweisungen unklar sind oder du selbst noch nicht genau weißt, was du willst? Dann produziert die KI Code, der nicht passt. Den wirfst du weg, fängst neu an, drei Iterationen später hast du mehr Zeit verloren als gewonnen.
3. Die Kluft zwischen Versprechen und Realität
GitHub Copilot selbst gibt zu, dass User anfangs nur 29% der Vorschläge akzeptieren. Nach sechs Monaten Erfahrung? 34%. Das sind fünf Prozentpunkte Verbesserung nach einem halben Jahr.
Das bedeutet: In 66% der Fälle produziert das Tool nach einem halben Jahr Training immer noch unbrauchbaren Output. Das soll revolutionär sein?
4. Was nichts kostet, ist nichts wert
Viele KI-Tools sind kostenlos oder günstig. Das führt dazu, dass Projekte weniger ernst genommen werden. Mike drückt es drastischer aus: Wenn die Tools wirklich funktionieren würden, müssten wir in Shovelware ertrinken. Wo sind die 30 Apps, die jeder “10x-Developer” dieses Jahr veröffentlicht haben müsste?
Die realen Konsequenzen
Das Schlimmste an der ganzen Situation? Menschen verlieren ihre Jobs, weil sie diese Tools nicht “schnell genug” adoptieren. Entwickler sitzen in Jobs fest, die sie hassen, aus Angst, woanders könnte es noch schlimmer sein. Menschen verbringen Stunden damit, “richtig zu prompten” zu lernen, und fühlen sich schlecht, wenn es nicht funktioniert.
Tech-Leader fallen auf den FOMO-Hype rein, rebranden ihre Firmen als “AI-First”, rechtfertigen Entlassungen mit angeblichen Produktivitätssteigerungen und drücken Entwickler-Gehälter, weil sie glauben, KI habe die Wertgleichung fundamental verändert.
Dabei übersehen sie: Die besten Entwickler waren nie die schnellsten Tipper. Es waren die besten Problemlöser, Architekten und Planer. Und genau diese Skills kann dir keine KI abnehmen.
Was das für uns bedeutet
Mikes Botschaft an alle Entwickler da draußen: Trau deinem Bauchgefühl. Wenn sich diese Tools klobig anfühlen, wenn sie dich verlangsamen, wenn du dich fragst, wie andere so produktiv sein können, dann bist du nicht kaputt. Die Daten bestätigen deine Erfahrung.
Du fällst nicht zurück, indem du bei dem bleibst, was funktioniert.
Und wenn jemand behauptet, durch KI zum 10x-Developer geworden zu sein? Fordere Beweise. Zeig mir die 30 Apps, die du dieses Jahr veröffentlicht hast. Ohne Receipts ist das nur heiße Luft.
Mein Fazit
Die Entwicklung ist faszinierend, weil sie zeigt: Technologischer Fortschritt führt nicht automatisch zu mehr Output. Manchmal sind es die psychologischen und ökonomischen Faktoren, die den Unterschied machen.
Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich sagen: KI-Tools sind nützlich für bestimmte Aufgaben. Boilerplate-Code, repetitive Patterns, schnelle Prototypen. Aber sie ersetzen nicht das Denken, Planen und Architektieren. Im Gegenteil, sie setzen voraus, dass du diese Skills bereits hast und genau weißt, was du willst.
KI-Coding-Tools werden besser werden. Vielleicht werden sie eines Tages wirklich halten, was sie versprechen. Aber heute, im November 2025, nach Jahren der Entwicklung und Milliarden an Investitionen, sehen wir keinen messbaren Effekt auf die tatsächliche Software-Produktion weltweit.
Das einzige Metrik, das zählt, ist: Wird mehr Software ausgeliefert?
Die Antwort ist ein klares Nein.
Ich bin Tobias, bekannt unter der Personal Brand Tobeworks. Ich arbeite seit über zwei Dekaden leidenschaftlich als Fullstack Webdeveloper und Berater für anspruchsvolle Webprojekte.